Montag, 6. Oktober 2008

Man sieht es an ihren Augen...

Sofort entdeckte ich die Frau.
Eine junge und sehr sympathische Frau. In einem eleganten Pelz, mit einer Handtasche und einem Buch in den Händen.
Und mit einem derart gewaltigen schwarzen Wirbelwind über dem Kopf, wie ich ihn seit bestimmt drei Jahren nicht mehr gesehen hatte!
Vermutlich guckte ich wie ein Wahnsinniger drein. Was die Frau spürte, denn sie sah zu mir herüber, wandte den Blick aber gleich wieder ab.
Du solltest lieber nach oben schauen!
Nein, sie war natürlich nicht imstande, den Strudel zu sehen. Bestenfalls konnte sie etwas spüren, eine leichte Unruhe. Und nur ganz vage, nur aus den Augenwinkeln heraus, vermochte sie ein Flirren über ihrem Kopf wahrzunehmen - als schwirrten Fliegen über ihr, als flimmerte an einem heißen Tag die Luft über dem Asphalt...
Doch sehen konnte sie nichts. Nichts. Sie würde noch einen oder zwei Tage leben, bevor sie auf Glatteis ausrutschte, und zwar so, daß sie eine tödliche Kopfverletzung davontrug. Oder sie würde unter ein Auto geraten. Oder im Hauseingang ins Messer eines Verbrechers laufen - der nicht die geringste Ahnung hatte, warum er diese Frau umbrachte. Und alle Welt würde sagen: "Sie war so jung, das ganze Leben lag noch vor ihr, alle haben sie gern gehabt..."

(Sergej Lukianenko - "Wächter der Nacht")

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Als ich den Text las, wusste zunächst ich nicht, dass er aus einem Buch stammt, und dachte, DU hättest das erlebt.

Doch dann beim "Flirren" kamen mir plötzlich Zweifel, und ich dachte, so etwas würdest DU nicht schreiben.

Es ist eigenartig: Es gibt bestimmte Wörter und Schreibstile, an denen man sofort erkennt, dass das nicht vom Tagebuch-Autor selbst kommt, sondern dass es der Text eines Liedes, Buches u.ä. ist, obwohl man das Lied/Buch gar nicht kennt.

Ähnlich geht es mir, wenn ich den Fernseher einschalte: Obwohl ich die Sendung und den Sprecher gar nicht kenne, spüre ich sofort, ob derjenige seine eigene Meinung sagt, oder einen vorgegebenen Text spricht (z.B. im Film)

rabi

Satorare hat gesagt…

Ja, geht mir ähnlich. Ich finde, so merkt man im Netz auch nach 'ner gewissen Weile, ob jemand wirklich der ist, der er vorgibt zu sein.

Nun ja, ich sehe keine schwarzen Wirbel, aber manchmal großes Leid in den Augen der Menschen. Und auch andere Dinge, aber die ziehen mich gewöhnlich nicht so runter... nerven mich nur...